Archive for September, 2004

[ abendstadt ]

Mittwoch, September 29th, 2004


 

es hat mich hergetrieben: über die deutzer
brücke dem abend zu, der stadt, bis an die
sockel des kölner doms

menschenwellen branden über den zwielichti-
gen platz. hier und da menschenmuscheln, die
ins auge fallen. der rest geht unter in der
gischt, im reklamenlicht, im gleichmütigen
wehen von werbewimpeln und fahnen, im
grinsen und stammeln der wahlplakate aus
einem gestern. abendstadt. vergebliche blitz-
lichter sollen die türme erhellen in sekunden-
bruchteilen uninteressierter schliessmomente:
alltagstölpel auf reisen
 

foto: blick auf die deutzer brücke
köln, 28. september 2004


[ uuuuu – ich bin so eitel ]

Dienstag, September 28th, 2004

post für mich

„hey, war schön, dass du da warst. wenn du das
nächste mal schlechte laune aufgrund deines alters
hast, nenn ich dir zwei schätzungen. ich schein mich
doch am schnupfen angesteckt zu haben. bäh. muss
flüchten“

ja, heute habe ich schlechte laune. also her damit
(allerdings nicht des alters wegen. gilt das trotzdem?)

an diesem schnupfen musstest du dich gar nicht
anstecken: ich habe ihn dir einfach da gelassen. fühlt
sich, ehrlich gesagt, angenehm an, ohne


[ nachtrag. berlin ]

Dienstag, September 28th, 2004

berlin, 14. september 2004

warmer schmierregen, irgendwie eklig, irgendwie schön. abendgrau. warmer sand-auf-nassem-asphalt-geruch. der espresso schmeckt erstaunlich gut, auch wenn dies café nicht in le vigan, an der ecke gegenüber der sous-préfecture steht. die tresenfrau trägt ein piercing an der linken augenbraue, lacht ein seltsam erwachsnes lächeln

wat – noch’n zucker?? det passt doch jaanich rinne

und ein piercing trägt sie mittig unter der unterlippe. selbstsicher lächelt sie. wie ein schneesturm bricht der zucker die glatte oberfläche des kaffees und versinkt unsichtbar unter seinem wellenschaum. draussen, an der bushaltestelle, werde ich gleich abgeholt. schade, fast: hinaus in den abend


[ wahlheiten. wut im bauch ]

Montag, September 27th, 2004

köln. nach der kommunalwahl nrw 2004

“ Bei der Kommunalwahl in Köln hat die schwarz-grüne Koalition die Mehrheit verloren. Nach dem vorläufigen Endergebnis muss die CDU Verluste von 12,5 Prozent hinnehmen, bleibt mit 32,7 Prozent aber vor der SPD mit 30,9 Prozent (+0,6). Die Grünen verbessern sich um 0,8 Prozent auf 16,5 Prozent, die FDP gewinnt 3,3 Prozent und landet bei 7,4 Prozent. Mit 4,7 Prozent erreicht die rechtsextreme Pro Köln ein unerwartet hohes Ergebnis. Die PDS verbessert sich um 0,8% auf 2,9 Prozent.

Für die Sitzverteilung im Stadtrat bedeutet das: CDU 29 Sitze, SPD 28 Sitze, Grüne 15 Sitze, FDP 7 Sitze, PRO Köln 4 Sitze, PDS 3 Sitze, Andere 4 Sitze “ [quelle: Köln.de „Kommunalwahl 2004“]

so oder so ähnlich lauten die meldungen in den medien, die mich erreichten seit dem vergangenen abend. hier prozentzahlen und wortschwallende interviews (weithin nur sieger, irgendwie) auf der einen seite – zur anderen hin schweigen. schon letzte woche, in sachsen wie in brandenburg: theatralisches erstaunen, herum- und gegenrechnen, wägen, mutmassen, dann schweigen

das ist nicht wahr: ‚protestwahl‘. auch ist nicht wahr, dass braune horden auftauchen aus dem nichts. auftauchen auf der strasse, an den urnen der politischen wahl und einfallen in die parlamente. es ist nicht wahr, dass niemand etwas ahnte

es ist nicht wahr, dass dies ein bislang unbekanntes phänomen im deutschland dieser tage ist: der deutsche apfel fault am deutschen stamm und fällt – gelegentlich – herunter. weil er vergammelt, ist ihm obsolet zu rollen: es bleibt als brauner sumpf ein most, der um sich fliegen schart mit kahlem haupt und hakenkreuzenaugen – und auch ist bitter wahr, dass sogenannte demokratInnen vor den wahlen rechte positionen zu besetzen suchen, um damit logischerweise jene positionen zu befördern: wo rassistische und / oder faschistoide parolen aufgerufen werden, ist eine reaktion zu erwarten, die nicht im rahmen dieser bundesdeutschen demokratie liegen kann: ausgelagerte verantwortung

im zweiten akt folgt schweigen. folgt jene ruhe, die die larve braucht, zu wachsen

jenen, die gewohntermassen dementieren wollen (denn solch widerwärt’g gebahren findet in unsrem güldnen vaterlande hie nicht statt!), sei eine mentale leiter gereicht, als beispiel, stellvertretend für viele: in köln wurde die faschistoide hetze gegen die sogenannten „klaukinder“ zum trampolin für rechte gedankenkapriolen

DER SPIEGEL „VERBRECHEN Klaukinder für Köln“ (30.03.1998)

FDP Köln „Taschendiebe sollen ins Heim“ (15.08.2003)

polizei-pressestelle köln (25.10.2002)

WDR „Klauende Roma-Banden?“ (13.07.2001)

es ist nicht wahr, dass niemand etwas ahnen konnte: dies ist die lange und bittere geschichte einer republik, die sich vom vorwurf der befangenheit in ihrer faschistisch-nazistischen biographie zurecht bislang nicht befreien konnte

ihr väter und mütter jener zwangvollen demokratie: niemals habt ihr ernsthaft diese brut verhüten wollen – eure kahlen kinder. eure töchter, söhne, enkel und geschwister


[ ausgestiegen ]

Donnerstag, September 23rd, 2004

… dass du dich endlich getraut hast: wunderbar

ganz gleich, wo deine hufe stehen, ich werde
sie halten. keine frage. keine zweifel. keine
bedingungen

älterwerden bringt s o l c h e vorteile …

hast du es bemerkt?
wir haben uns umarmt, zum abschied. zum
ersten mal wieder, seit fast zehn jahren


[ unter platanen ]

Sonntag, September 19th, 2004


le vigan, 27.08.2004. unten, über dem fluss, spannt sich die ‚vieux pont‘ aus dem zwölften jahrhundert, schwebt ihr bogen aus stein, spiegelt sich zum kreis, darunter schwärme von forellen. sie saugen an der haut, wenn du den sonnenplatz am ende des chemin de la rivière findest und – deinen blick nach süden – den fuss ins wasser senkst. kennst du dieses gefühl?

 


 

ein strassencafé unter platanen an der strassenecke gegenüber der sous-préfecture. im spätsommerschatten wandern erinnerungen. du tauchst prustend in das bergwasser des flusses, das den atem nimmt und dies bild einbrennt in meiner vergangenheit. die zeit zieht vorbei im schatten. eine wasseramsel: heller schrei aus weisser brust, verborgen zwischen moos und gischt und heissen steinen


you want to find anything? tu cherches quelque-chose? – non, merci, j’ai tout trouvé

im schatten jener platanen, an der ecke der avenue jeanne d’arc, gegenüber der sous-préfecture: geschlossene fensterläden. träge sackt die tricolore an ihrem galgenstrick. un café noir, bien sucré, avec de l’eau clair. ja, mit klarem kaltem wasser und die sonne rückt weiter, ein stück, dem herbst entgegen, ja, verdammt: unaufhaltsam dem herbst entgegen. un café noir, eine wasseramsel unter der alten brücke, nebenan bei den forellen, nebenan bei den clochards, die so jung sind, die immer jünger werden, immer mehr: die schatten am rand der schatten

doch hier, unter den platanen, zieht meine zeit vorüber wie die fische unter dem romanischem bogen, wie meine erinnerung an deine haut: tu te rappelles, mon amie?

tu te rappelles?
 

foto: le vigan, 28. august 2004


[ in jedem stück ]

Dienstag, September 14th, 2004

autopanne. ich hänge für mehrere tage in berlin fest. mein besuch beim liedermacher thomas vallentin brachte allerdings nicht nur eine nacht, gefüllt mit wein und wundervollen gesprächen sondern auch – quasi im handumdrehn, quasi nebenbei – einen neuen chanson auf den weg

in jedem stück das leben, vom anfang bis zum schluss
in jedem kuss das müssen, vom nabel bis zum schoss
in jedem namen find ich ort und stille; hier wie dort
─ das warten, das grosse warten

komm, du, an meine seite
wir lauschen eine weile
gib mir zu ruhen zeit
und gib zu trinken mir

komm, du, an meine seite
wir fliehen, nur wir beide
gib mir zu ruhen zeit
und gib zu trinken mir

es reicht mir eine träne, vom anfang bis zum schluss
in jedem kuss das küssen, vom nabel bis zum schoss
in deinem namen find ich ort und stille; hier wie dort
─ das warten, das grosse warten

komm, du, deck mich zu
mit einer deiner hände
gib mir zu ruhen zeit
und schliess die augen mir
am ende

text: georg hemprich
musik: georg hemprich / thomas vallentin

nachtrag, 11. november 2004

noch immer schreib ich lieder und gedichte für … nein, eher will ich dies sagen: über uns. lange zeit ist vergangen. ich bin radikaler geworden, in allem – das heisst: besonnener, klarer, doch noch mit den spuren von angst. vorsichtiger – will sagen: zärtlicher. ausser namen und zahlen vergesse ich nichts. die spiesser haben ihre probleme mit mir


[ eau non potable ]

Freitag, September 3rd, 2004


 

der parkplatz dort unten, neben der brücke:
modernisiert. vergrössert, das sah ich im vor-
beifahrn. die alte mauer musste weichen, das
unappetitlich nässende pissoir auch: licht
überall. der brunnen, weiter oben im dorf, ist
versiegt, trägt jetzt einen namen: ‚eau non po-
table‘. im steinernen viereck seines beckens
hatten wir uns – ja, mitten auf dem platz – am
morgen gewaschen, lachend: so war es gut

wir fanden die romantischen winkel, wir schmol-
zen hin in der sommerhitze gleich dem weich-
geglühten asphalt, hatten die unvergesslichen
augenblicke, die nur wir beide aufspüren und
einander zeigen konnten aufgespürt und ein-
ander gezeigt, hatten in diesem unscheinbaren
café unseren rituellen morgenkaffee genossen
– schwarz und zuckersüss -, hatten am brunnen
unsere wasservorräte aufgefüllt, waren weiter-
gereist. dieser morgen im august, dein lachen
am brunnen in meiner erinnerung; aber nein –
so war es nicht: wir fuhren nicht sofort weiter

schau, auf unserem schlafplatz bauen sie ein
haus (nein: das neue wächst neben den rui-
nen). hier, in diesem café, haben wir mit dem
schweigen begonnen. oder war das vorher ge-
schehen? (ja.) hatten wir hier bereits von an-
derem gesprochen – vom wesentlichen vermut-
lich: morgen, übermorgen. ich dachte du woll-
test? aber du hast doch immer? ich bin dir nicht
wichtig, oder? – aneinander vorbeigedacht? an-
gestrengt vorbeigesehen. der brunnen war ver-
siegt, ehe wir den geschmack seines wassers
vergessen hatten

ma chère, ma douleur, mon coeur – je veux partir
 

foto: un petit village, 02. september 2004