[ bof! noël éléctrique ]


 

die engel tragen falschen pelz und lack, sie lassen sich
bezahlen für das halleluja in den billigeren strassen
der cités, hart am rand, wo es keine märchen mehr
gibt, wo papa noël wie ein dieb in bröckelnden fassa-
den hängt

der weihnachtsbaum trägt rote plastiknadeln, die
tragen falschen schnee. die städte auf dem land
die dörfer eifern um den ersten rang quälenden
geschmacks: es blinkt und glitzert in girlanden, aus
lichterketten über strassenbreiten in elektrischen
kaskaden aller farben – marseille aber, die stolze
stadt am meer, hält edel sich zurück

wer seine ‚gratification de noël’° rechtzeitig ausbe-
zahlt bekam, der treibt über die nebenstrassen der
canebière, der prachtstrasse, der champs-elysées
des südens, geleitet von glocken der heilsarmee, vom
klagen der akkordeons, dem duft gebrannter man-
deln, lärmenden lockgeräuschen hell erleuchteter
ladengeschäfte, der schiebt sich durch die tempel des
lichts, getrieben von der hoffnung auf wenige bro-
samen unerschwinglichen konsums

vielleicht treibt er weiter zum alten hafen, setzt sein
kind ins karussell, leistet sich das rundenvergnügen
auf einer eislaufbahn, mühsam knöcheltiefen kunst-
schnee fuss vor fuss voranschiebend: marseille nimmt
das absonderliche als ein fest

bof! sagt der wagenbesitzer, rückt den zerknitterten
kotflügel in eine ihm akzeptable lage zurück. bof!
junge männer finden sich in chourmo-gruppen, tre-
ten einen ball oder zerspielen autoscheiben. bof! sagt
die cafébesucherin, auf deren po eine männerhand
klatschend zu liegen kommt – und lacht. bof! sagt
der clochard, der ein plakat entziffert, das tausend
euro strafe jedermann verspricht, der öffentlich in
strassen uriniert. bof! sage ich, als ich erneut in
hundescheisse trete – und sehne mich nach regen

hoch über allen lichtern dieser stadt erhängte papa
noël sich an balkonen


° – weihnachtliche sonderzahlung der staatlichen sozialkasse

 

foto: basilique notre dame de la garde über dem
roucas blanc

marseille, 19. dezember 2005


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