[ das unerbittliche auge ]


marburg, 13. märz 2005. ein café am ufer der lahn. war-
ten auf volker bradke, der sich verspätet

 


 

augenfällig: blaue hose, lotternd, baumwollhemd, grün
ein wollschal, schamott, fleckig, eng um den hals ge-
wunden, abgeratzte lederjacke, braun, ein unrasier-
tes lachen, laut, breit, eine schwarze wollmütze in die
stirn gezogen

ich: wie siehst du denn aus?
er: wie soll ich denn aussehen?
ich: na – so

es ist warm hier drin, doch er wird nicht ablegen. ge-
trunken hat er, in der letzten nacht; unmittelbar ge-
raten wir in streit

er: ich saufe nicht. ich trinke gern mal ein bier
 


 

an einem der nachbartische schnorrt er die zweite
zigarette

erkältet sei er, von daher komme seine erotische
stimme, sagt er und niest

vergessen scheint das vergangene jahr der exzesse
und der abstürze, der entgiftung, des entzugs, der
nachfolgenden exzesse. wir streiten. er nennt mich
einen dummkopf, springt auf: ich bin agil wie vor fünf-
unddreissig jahren

dann lacht er, wirft die arme auf, weit nach hinten
 


 

nein, ich folge ihm nicht in die kleine wohnung, um
seine neusten arbeiten zu hören, die mir längst be-
kannt sind

er: ciao bambino
 


 

fotos: besuch bei volker bradke
marburg, 13. märz 2005


11 Responses to “[ das unerbittliche auge ]”

  1. peryton sagt:

    danke, frank, für deine geschichte.

    ja, der volker war … ach, er war einfach ein besonderer mensch.

    liebe grüsse an dich,
    peryton

  2. Frank Drescher sagt:

    Hallo zusammen.

    Auch ich kannte Volker und habe ihn gemocht. Glaub, er würde heute noch „mein Freund Frank“ rufen, wenn er mich sähe. Hab mit ihm in fürchterlichen Zimmern Anfang der 80er in der Frankfurter Straße hinter der „Linde“ gewohnt. Ich war Studienanfänger und er 18 Jahre älter. Kam schon mal vor, dass er nachts nachhause kam und alte Damenschuhe und sonstigen Tand an die Flurwand nagelte. „Kunst“ nannte er das. Erzählte von seinem Kontakt zur Düsseldorfer Kunstszene als Jugendlicher. Fotos mit Volker und Beuys. Als er mir dann sein Adressbuch (auf hunderten von Karteikarten) mit Berühmtheiten aus Kunst und Medien zeigte und ein Buch lieh, das er übersetzt hatte als kaum Zwanzigjähriger, war klar, dass er was Besonderes war, aber eben auch tragisch. Hab ihn dann immer mal wieder gesehen, auch nachdem er die kleine Wohnung am Hirschberg bekam. Und in Kneipen traf man sich, er kam immer mit seinem schnellen Schritt herein. Zuletzt gesehen habe ich ihn, da wohnte ich schon nicht mehr in der Studienstadt, so Mitte der 90er, bin mit ihm versackt, obwohl ich doch nur meiner Frau die Stadt und die ehemalige Stammkneipe zeigen wollte.

    Alle paar Jahre habe ich ihn gegoogelt, den Volker, so auch vorhin. Nun ist er schon bald zwei Jahre nicht mehr. Bin traurig. Schön, dass er eine so schöne Ruhestätte hat.

    Tschüss, Volker

    Frank Drescher

  3. peryton sagt:

    lieber jochen bradke!

    herzlichen dank für deine nachricht.

    ich freue mich sehr, dass ich deinen bruder kennenlernen durfte. wir haben uns über jahre immer wieder in marburg getroffen. anfangs wusste ich noch nichts von seiner lebensgeschichte, die ja auch einen teil kunstgeschichte beschrieb. unsere wege waren auseinander gegangen, nachdem seine alkoholkrankheit eine beständige freundschaft zwischen uns unmöglich gemacht hatte. dennoch habe ich ihn in liebevoller erinnerung behalten.

    ich hoffe, dass du meine geschichten über volker so lesen konntest, wie sie gemeint waren: als künstlerischen ausdruck meiner besonderen wertschätzung. volker habe ich als einen menschen erlebt, der mich mit seinen aphorismen und erörterungen menschlich wie künstlerisch bereichern und inspirieren konnte.

    mit lieben grüssen und besten wünschen,
    peryton

  4. Volker Bradke ist am 8.12.2018 in Marburg verstorben und im Ruheforst Marburger Land / Germershausen unter einer wunderschönen Buche beerdigt. Ich bin sein 17 Jahre älterer Bruder.

    Gruss, Jochen Bradke

  5. Rüdiger sagt:

    Bei Bradke im Wal fiel mir immer Wolfgang Ambros ein: „Im Wirtshaus triff i immer an der waß wos Gott erzöht, er is so reich, er is so guat, er kennt de ganze Wöd. In Wirklichkeit is er a Sandler, hocknstad und dauernd Fett,
    des letzte Weh in meine Aug’n, na i pock erm net.“
    So habe ich ihn gesehen, so habe ich ihn in Erinnerung. Ich mochte ihn nicht, ich würde ihn auch heute, 29 Jahr nach MR, nicht mögen.

  6. Sam Haphcoe sagt:

    Volker
    mir: ein Rätsel
    faszinierener, verstörender, erbarmungsloser
    Art

  7. Sigrid Schröder sagt:

    Habe Volker am 10.12.07 in Marburg kennengelernt. Eine schöne Erfahrung.

  8. Stefan Nowak sagt:

    Japp, das ist Volker. Er hat mich heute erst auf die Idee gebracht, ihn einmal zu „googeln“.
    Die Bilder passen, bis auf das letzte vielleicht. Erstaunt habe ich ihn noch nie gesehen. Immer eine Antwort, immer ein kluger Satz, Rat oder ein Witz, der zu laut vorgetragen ist und nicht so ganz in die Umgebung passt.

    Hilfsbereit, kafkaes (wenn man es denn so schreiben will) und faszinierend.

  9. peryton sagt:

    oh, ulrike

    liegt hier ein missverständnis vor?

    schätzte ich den volker bradke nicht als menschen und als künstler, hätte ich nicht (nicht so) über ihn geschrieben

    übrigens bist du einer der wenigen menschen, die mir unterstellen, ich besässe moral und/oder anstand. das war somit ein leicht befremdliches ‚kompliment‘ …

  10. ulrike simon sagt:

    Sieh die Menschen an, sieh sie an mit offenen Augen, sieh ihre Schatten, sieh ihr
    Licht, sieh ihre Wärme, ihre Kälte…

    Sieh hin.
    Sieh…
    Sieh

    auch ihre Wunden.

    Wirf deine Zwangsjacke und Sträflingskleidung
    von
    Moral und Anstand einfach ins Feuer.

    Leg.
    Leg …
    Leg ab…

    was du am Leib hast…

    und du wirst verstehen, dass Volker Bradke ein wunderbarer Mensch und Künstler ist, den du nie verstehen wirst, wenn du nicht …

    hin siehst und ab legst. Eine Freundin

  11. volker bradke sagt:

    die ZUKUNFT
    heißt vergangenheit.

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